Palmsonntag 2025

Mit den Müden zur rechten Zeit reden

Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. (Jesaja 50,4-5)

 der muede

„Der Müde“ heißt diese Zeichnung von Ernst Barlach.

Wir sehen die Gestalt eines bärtigen Mannes. Ein müder Wanderer könnte er sein. Oder er ist alt und deshalb müde, lebensmüde. Er füllt fast das ganze Bild aus, diagonal von links unten nach rechts oben. Er hat sich niedergelassen. Die Knie sind gebeugt, geben keinen Halt mehr. Die Arme sind beide auf den Stock gestützt. Mit dem Rücken lehnt sich der Mann erschöpft an den Rand des Bildes. Es ist nicht zu erkennen, ob da noch ein unsichtbarer Gegenstand ist, auf dem der Müde sich niedergelassen hat, um sich auszuruhen. Im Grunde ist nichts an eigener Kraft mehr zu sehen, was diesen Menschen aufrecht hält. Auch die Augen sind halb geschlossen. Ein Zustand der Kraftlosigkeit, wo einen nichts mehr aufrecht hält. Wo man sich nur niederlassen, anlehnen kann. Müde, unendlich müde.

Da fliegt eine weibliche Gestalt ins Bild, schwebend, engelhaft. Ihr Gesicht strahlt hell, ist dem Gesicht des Mannes zugewandt. Behutsam umfasst sie mit beiden Händen den Kopf des Mannes, zärtlich, schaut ihm liebevoll, vielleicht auch prüfend ins Gesicht. Da kommt Bewegung ins Bild und Licht. Vielleicht gelingt es ihr, zu wecken, was ermattet ist. Vielleicht findet sie Worte, die Kraft spenden gegen die Erschöpfung. Eine geheimnisvolle Begegnung zwischen Himmel und Erde.

Müdigkeit ist ein gefährlicher Zustand. Er ergreift einen leicht. Die ersten Anzeichen: wenn ich das Leid eines anderen nicht mehr empfinden kann. Wenn ich keine Freud mehr spüren an einer aufblühenden Blume. Wenn mich das Leben nicht mehr lockt. Wenn Tränen mir fremd sind.

Ja, sie ergreift einen leicht, diese Müdigkeit. Und wie schwer ist es, andere aus ihrer Müdigkeit herauszuholen! Was kann man tun? Was kann man sagen? Der Prophet Jesaja sagt:

„Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.“

Ich kann es nicht selbst, sagt Jesaja, ich tue es nicht selbst. Gott der HERR weckt mir das Ohr und öffnet mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören, dass ich also wie ein Jünger, wie ein Schüler höre, was ich zu lernen habe, was ich nachtun soll, was von mir verlangt wird.

Das Ohr öffnen. Ohren sind immer offen. Sie sind das Sinnesorgan, das ich nicht aktiv schließen kann, wie die Augen oder den Mund. Der Riegel, der Ohren öffnet und schließt, sitzt im Kopf. Da sitzen die Schlüssel, die mich abschließen und abschotten von den Worten und Geräuschen außen. Sie tragen unterschiedliche Etiketten, diese Schlüssel: Vorurteile, die Erziehung, Angst, Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit. Aber ich habe von innen heraus auch die Möglichkeit, mich aufzuschließen, aufgeschlossen sein gegenüber Worten und Geräuschen, die mich erreichen. Wenn ich innerlich offen bin, dann wird mein Ohr offen. Ich kann lernen hinzuhören und herauszuhören, wer es nötig hat, dass ich ihm mein Ohr leihe.

Umgekehrt gilt: was wir hören, geht von außen ins Ohr hinein. Und doch kann es sein, dass es uns nicht berührt. So ist das mit dem Schall. Wir haben keinen direkten Kontakt mit ihm, anders als z.B. bei dem, was wir schmecken oder fühlen. Es geht manchmal zum einen Ohr hinein und zu anderen heraus. Ohren auf Durchzug. Manchmal aber geht es in den Kopf und bleibt im Kopf. Kein anderer Sinn kann uns so tief „berühren“ wie das Hören. Musik, ein Wort, das Wort Gottes.

„Gott weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören“, wie Schüler hören, die eine Aufgabe bekommen. „Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.“

Ich höre, horche und gehorche. Ich bin wach, aufgeweckt und gar nicht mehr müde. Ich lasse mich nicht gehen und lasse es nicht mehr gleichgültig laufen, sondern es geht mich etwas an, wenn andere müde sind. „Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.“ „Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.“

Das ist die Kunst. Mit den Müden zur rechten Zeit reden. Erkennen, wann jemand müde ist, resigniert, hoffnungslos und darum kraftlos, tatenlos, glaubenslos. Und dann reden, erzählen, Worte finden, tröstende, befreiende, aufrichtende, den Müden Stimme verleihen, ihr Sprachrohr sein, sie hörbar machen. Und das zur rechten Zeit: nicht zu früh und nicht zu spät, dann, wenn sie zu versinken drohen und Halt brauchen, dann, wenn sie noch hören können, dann, wenn sie empfänglich sind und es aufnehmen können.

So zu reden, mit den Müden zur rechten Zeit, ist eine Kunst, eine wahrhafte Heilkunst gegen die Krankheit Müdigkeit, die nichts mehr ändern will und alles gehen lässt. Und wenn Gott es ist, der Jesaja eine Zunge gegeben hat, wie sie Jünger haben, dass er weiß, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Wenn Gott es ist, der ihn alle Morgen weckt; selbst das Ohr, dass er höre, wie Jünger hören, dann deshalb, weil Gott heilen will und das Heil, weil er der Heiland ist.

Es kommt nicht von ungefähr, dass Barlach die Haltung des Engels so gezeigt hat wie bei einer Krankenschwester, die einem Kranken den Kopf stützt, im Nähe zeigt, aber ihm zugleich auf forschend in die Augen schaut. Was fehlt dir? Diese Zu-Wendung Gottes heilt. Sie hilft zur Wendung. Und sie geschieht oft durch Menschen, die zu Engeln, zu Botschafter Gottes werden. Die zur rechten Zeit, das richtige sagen oder tun.

Der Müde, hat Barlach sein Bild genannt. Und mit einem zweiten Titel: Tröstung. Tröstung, die uns da erreichen kann, wo wir zur Ruhe kommen ohne müde zu werden, in uns gehen, aber uns nicht gehen lassen, zugleich aber zulassen, dass Gottes Boten uns so erreichen, so berühren und aufwecken. Amen.

Pfr. Martin Anefeld
Abbildung: Ernst Barlach, Der Müde, Illustration für die Zeitschrift "Der Bildermann. Steinzeichnungen für’s deutsche Volk." herausgegeben von Paul Cassirer, 1916 (Heft 4, 20. Mai, S. 5), in: https://nat.museum-digital.de/object/69689